Bei den Sternen

Warum ich so einen persönlichen Beitrag wie diesen hier überhaupt schreibe? Es hilft mir einfach, Dinge zu verarbeiten, zu analysieren, zu hinterfragen und ein Stück weit für mich abzuschließen, um wieder Platz zu schaffen. Und vielleicht spendet es auch Trost. Denjenigen, die auch einen geliebten Menschen verloren haben oder ein geliebtes Tier gehen lassen mussten..

Heute vor genau einem Jahr war von einer Sekunde auf die andere alles anders und es wurde mir der Boden unter den Füßen weggerissen – ohne Vorwarnung, ohne Netz und mit voller Härte.

Aus dem Nichts kam sie, die Nachricht „Papa liegt im Krankenhaus und es ist ernst“. Aus heiterem Himmel an einem Samstag Abend. Gefolgt von einer Welle der Emotionen und zwei gefühlt endlos langen Tagen voller Sorge, Hoffnung, Angst, Hilflosigkeit, Bangen, Unsicherheit und Ratlosigkeit. Es hieß, er hätte einen Infekt, durch den er sehr, sehr hohes Fieber hatte und durch den sich die Lunge mit Wasser gefüllt hatte.

DER 12. NOVEMBER 2018

Dann kam er. Montag, der 12. November. Der bisher dunkelste Tage in meinem Leben. Ich war so voller Hoffnung, weil das Krankenhaus uns sagte, sie würden nachts anrufen, wenn es kritisch werden sollte. Mit einem elenden Gefühl im Bauch hatte ich morgens auf mein Handy geschaut. Kein Anruf in Abwesenheit. Puh, mir war ein riesen Stein vom Herzen gefallen.

Ich war mit Kai-Uwe gerade vom Morgenspaziergang zurück und wollte mich auf den Weg ins Krankenhaus machen, da kam die Nachricht  „Er wird es nicht schaffen. Es wird in den nächsten paar Minuten zu Ende gehen.“ Darauf war ich überhaupt nicht gefasst, denn damit hatte ich in dem Moment einfach nicht gerechnet und es erwischte mich eiskalt. Ich wusste, ich würde es jetzt nicht auch mehr rechtzeitig ins Krankenhaus schaffen. Erst war ich kurz wie gelähmt. Mein Kopf konnte die Nachricht nicht so schnell verarbeiten. Dann schossen mir sofort die Tränen in die Augen.

Irgendwann war es still. Ich fragte mich, wie das nur sein konnte. Das passierte doch jetzt nicht wirklich. Wir sind im 21. Jahrhundert und nicht mehr im Mittelalter, als Menschen noch an einer Grippe starben. Die Medizin war so weit und er lag schon zwei Tage auf der Intensivstation. In den besten Händen, medizinisch bestens versorgt. Und dennoch hatte ihn ein „einfacher“ Infekt das Leben gekostet. Denn trotz all der guten medizinischen Voraussetzungen war das vorbelastete Herz einfach zu schwach gewesen. Das konnte doch einfach nicht sein. Diese Tatsache wollte mir viele, viele Wochen lang einfach nicht in den Kopf.

Jeder, der schon mal eine ähnliche Nachricht erhalten hat weiß sicherlich, wie man es in den ersten Minuten nicht fassen kann und auch nicht wahrhaben will. Ich war wieder in einem totalen Gefühlchaos… ich war fassungslos, ich war wütend, ich wollte die Tatsache verdrängen und nicht wahrhaben. Aber es half nichts. Letztendlich überwiegte einfach nur die Traurigkeit.

DIE WELT STEHT STILL

Angekommen im Krankhaus realisierte ich, was gerade passiert war. Im Zimmer war es ganz still. Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich an jedes noch so kleine Detail. Auf dem Nachttisch stand eine Lampe. Sah aus wie so ein Rosenquarzlicht, darunter lag ein Tuch. Utensilien, die die Seelsorgerin mitgebracht hatte, die im Krankhaus anwesend war. Auf dem anderen Tischlein stand ein halber Becher Pfefferminztee. Sehnlichst hatte er sich am Tag zuvor einen Pfefferminztee gewünscht, weil die Medikamente ihn so sehr ausgetrocknet hatten. Nun sah ich, dass er ihn nur noch zur Hälfte trinken konnte und es brach mir das Herz. Auch diese kleine Freude war ihm also vergönnt gewesen.

Und da lag er. Befreit von all den Kabeln, Schläuchen und Kanülen. Ganz friedlich sah er aus, mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht. Ein kleiner Trost. Er hatte wirklich sehr gelitten in den letzten beiden Tagen und war sicherlich froh gewesen, nun erlöst zu werden. Auch, wenn mich dieses Bild unglaublich lang verfolgt und sich förmlich in meinen Kopf gebrannt hat.. Ich habe diesen Moment für mich gebraucht, um zu realisieren, was passiert war und auch, um Abschied zu nehmen.

TRAUERBEWÄLTIGUNG

Jeder geht mit so einem Verlust und mit der Trauer anders um. Die Ärztin zog mich für 2 Wochen aus dem Verkehr. Meine Welt war ohnehin stehen geblieben. Ich verlor jegliches Gefühl für die Zeit. Ich wusste nicht, ob es noch Vormittag oder schon Nachmittag war, ich musste länger nachdenken um mich zu erinnern, welcher Wochentag denn gerade war. Dinge, über die ich mir in der vergangenen Woche noch den Kopf zerbrochen hatte, erachtete ich auf einmal als Banalität oder Luxusproblem. Ein paar Tage zuvor hatte ich mir noch den Kopf zerbrochen, ob wir im nächsten Jahr nach Italien oder nach Holland in den Urlaub fahren sollen, wenige Tage später musste ich mit meiner Mutter zusammen einen Grabstein auswählen und Witwenrente beantragen. Durch so ein einschneidendes Erlebnis verschieben sich die Prioritäten einfach komplett. Und alles andere erscheint auf einmal total banal und völlig belanglos.

Ich war zwei Wochen lang nicht bei der Arbeit, hatte aber dennoch nicht viel Zeit, um über das, was passiert war nachzudenken. Ich war jeden Tag abwechselnd bei meiner Mutter und bei meiner Oma, zwischendurch mit den Hunden draußen und es gab unendlich viel zu klären und zu regeln. Eigentlich möchte man sich zurückziehen und einfach nur traurig sein aber dann ist da noch dieser Berg an Angelegenheiten, die zeitnah geklärt werden müssen. Wirklich schrecklich.. Man muss innerhalb kürzester Zeit Entscheidungen treffen, die man überhaupt nicht bereit ist, im Moment der Traurigkeit zu treffen. Meine persönliche Auszeit waren zweimal am Tag die Spaziergänge mit Kai-Uwe, die in dieser Zeit wirklich sehr lang ausgefallen sind. Ich war oft 2 Stunden am Stück draußen. Diese Auszeit half mir, jeden Tag das Erlebte Revue passieren zu lassen und zu verarbeiten. Hin und wieder verdrückte ich natürlich draußen auch einige Tränchen. Aber ich war zum Glück zu Zeiten draußen, an denen einem kein Mensch in den Wäldern und auf den Feldern begegnet und hatte so meine Ruhe.

In der schweren Zeit habe ich gemerkt, dass es tut auf jeden Fall auch gut tut, Gedanken und Worte aufzuschreiben. Einen Tag vor der Beisetzung habe ich einen Brief geschrieben. Ich schrieb mir den Verlust von der Seele und schrieb alles nieder, was ich noch sagen wollte. Der Brief kam mit drei wunderschönen, frischen Röschen (eine für meine Oma, eine für meine Mama und eine für mich) mit ins Urnengrab.

Mein Umfeld hat mich in dieser schweren Zeit total überrascht. Ich war wirklich überwältigt von so viel Anteilnahme und geteilter Trauer. Die Karten, lieben Nachrichten und Verbundenheit im Herzen taten so gut. Aber am Ende des Tages kann einem natürlich keiner die Trauer abnehmen. Man muss für sich selbst herausfinden, was einem gut tut und selbst einen Weg finden, mit der Trauer zurechtzukommen.

EIN VERLUST VERÄNDERT ANSICHTEN

Aber was hat es mit mir gemacht, dieses einschneidende Erlebnis? Jetzt kann ich rückblickend sagen, ich lebe intensiver. Natürlich nicht immer aber dafür immer wieder. Immer wieder versuche ich, Momente ganz bewusst und mit allen Sinnen zu erleben und zu genießen. Ich nehme dadurch manchmal Dinge wahr, die mir früher nicht aufgefallen sind. Ich genieße die Jahreszeiten, das Wetter, die Natur – die frische Luft. Die Wärme der Sonne auf meiner Haut. Die kalten Tropfen eines Regenschauers. Der frische Wind, der einem im Herbst um die Nase weht.

Auch ein Jahr später bin ich immer noch enttäuscht darüber, dass wir nur 27 gemeinsame Jahre hatten. Darüber, dass meine Kinder eines Tages ihren Opa nur aus Erzählungen und von Bildern kennen werden. Dass meinem Papa die Möglichkeit genommen wurde, seine Enkel kennenzulernen. Ich weiß selbst noch, wie das ist. Mein Opa ist gestorben, als ich 3 Jahre alt war. Bis auf einige Bilder habe ich leider keinerlei Erinnerungen an ihn, was ich wirklich sehr, sehr schade finde. Und nun weiß ich, dass es meinen Kindern eines Tages mit ihrem einen Opa genauso gehen wird. Mit dem Unterschied, dass ich ihnen nicht einmal gemeinsame Bilder zeigen oder gemeinsame Geschichten erzählen kann.

Doch die Zeit heilt ja bekanntlich alle Wunden und man muss einfach nach vorne schauen. Eines Tages wird die Enttäuschung sicherlich verflogen sein und die Dankbarkeit überwiegen. Für die Zukunft wünsche ich mir sehr, dass dankbar darüber sein kann, dass wir 27 schöne gemeinsame Jahre hatten. Und dass ich mit einem Lächeln an schöne Erinnerungen zurückdenken kann, statt traurig darüber zu sein, was wir nicht mehr zusammen erleben konnten.

Ein Spruch, den ich sehr schön finde, ist dieser hier:

Unsere Erinnerung ist ein Fenster. 
Ein Fenster, durch das wir ihn jederzeit sehen können, wenn wir es wollen.

Er ist nicht fort, sondern nur an einem anderen Ort.
Er ist jetzt bei den Sternen. Oben, bei den Sternen.